Das Geheimnis der Delfine
Es war einmal ein kleines Mädchen, das so gern viele schöne Sachen machen wollte. Es lebte auf einer Insel, wo es nur Ödnis gab. Wie es dorthin gekommen war, wusste es selbst nicht mehr. Es hatte keine Eltern und war ganz allein. Hier gab es keine Spielsachen, keine Freunde - nichts was das Leben schön machen konnte.
Auf der anderen Seite des Meeres leuchtete ihr ein wunderschönes Land entgegen. Dort war das Land ihrer Träume. Aber - wie hinkommen? Sie beschloss, schwimmen zu lernen und dann hinüberzuschwimmen. Tag um Tag übte sie, sie spürte, wie sie immer mehr an Kraft gewann. Aber würde sie es bis ans andere Ufer schaffen?
Als sie eines Tages wieder ihre Schwimmübungen machte und weiter als sonst hinausschwamm, tauchte aus dem Meer ein schreckliches rotes Ungeheuer auf, ein Wasserdrachen voller Zacken, der Feuer aus seinen Nüstern spie und sie mit wutverzerrten Augen ansah.
Voller Angst schwamm sie zurück. Tage traute sie sich nicht mehr ins Wasser und verharrte regungslos auf ihrer Insel. Sie war verzweifelt. Nie würde sie das Land ihrer Träume erreichen. Und wenn sie es nicht erreichen konnte, wollte sie sterben.
Wie sie schon immer schwächer wurde, dachte sie bei sich: Ich habe nichts mehr zu verlieren. Also kann ich genauso gut versuchen trotz des Wasserdrachens hinüberzuschwimmen. Ob ich hier sterbe oder der Drache mich frisst, ist einerlei. Dann habe ich es zumindest versucht.
Am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang war es soweit: Sie grüßte die Sonne, betete, verabschiedete sich von der Insel und schwamm los. Auf halber Strecke tauchte der Drache wieder auf, ein paar Meter vor ihr.
Sie dachte: Jetzt ist es um mich geschehen. Der Drache spie Feuer, schlug mit den Flossen Riesenwellen, Wasserberge türmten sich auf vor ihr - und sie drohte unterzugehen. In ihrer Not rief sie im Geiste um Hilfe, bevor sie die Besinnung verlor.
Plötzlich tauchte eine Schar Delfine auf. Ein Delphin stupste das Mädchen, ein anderer hielt es über Wasser, so dass sie atmen konnte. Die anderen Delfine bildeten einen schützenden Kreis um das Mädchen. Und als es erwachte, hörte es die fröhlichen Stimmen der Delfine, die keckerten, sangen und jubilierten.
Die Sonne schien und spiegelte sich auf dem Wasser. Ungläubig sah sie um sich, konnte das wahr sein? Die Delfine riefen ihr zu: "Hab keine Angst! Wir sind bei dir, der Drachen kann dir nichts tun, das Leben ist schön. Frag ihn, wer er ist!"
Das Mädchen tat, was sie ihm auftrugen. Der Drache sah von ihrem sicheren Delfinfloß aus gar nicht mehr so furchterregend aus, obwohl er immer noch das gleiche machte. "Wer bist du?" fragte sie ihn laut. "Mein Name ist Angst und Schrecken", dröhnte er zurück. "An mir gelangt niemand vorbei."
Die Delfine lachten. Eine Gruppe schwamm auf ihn zu und umzingelte ihn, wich behände seinen Flossenschlägen aus und fing an, ihn zu kitzeln. Er vollführte tollkühne Kaskaden, um dem Gekitzel auszuweichen, aber die Delphine waren schneller und kitzelten ihn durch. Schließlich konnte er nicht mehr anders, er musste lauthals lachen. Und wie er so lauthals lachte, fing er an sich aufzulösen - wie eine Rauchwolke, die gen Himmel zog.
Das Mädchen staunte. Kein Drache mehr da, und das Ufer war schon nah. Sie sah Karussells, bunte Blumen, spielende Kinder, einen Fluss, Paläste, Regenbogen, hörte das Zwitschern der Vögel. Ein Hund bellte. Die Delfine sprangen in eleganten Bögen voller Lebensfreude um sie herum und riefen: "Das ist das Geheimnis. Ungeheuer verlieren ihre Macht, wenn sie lachen müssen. Merke dir das gut."
Das Mädchen nickte. Mit strahlenden Augen blickte sie ans Ufer, wo ihr jetzt einige zuwinkten. Sie streichelte den Delfin, der sie trug. Jetzt waren sie ganz nah am Ufer. Behutsam setzte der Delfin sie ab und blickte sie freundlich an. Auch die anderen Delfine hatten sich um sie versammelt und sangen ein Lied. "Wir sind immer da, wenn du uns brauchst. Jetzt geh und lebe deine Träume."
Das Mädchen bedankte sich und hatte Tränen in den Augen. Sie umarmte den Delfin, der sie getragen hatte, sagte "lebt wohl". Die Delfine schwammen und sprangen Richtung Meer. Das Mädchen wendete sich um und ging in Richtung Land. Sie war im Land ihrer Träume angekommen.
Günes