Der Flug des Seelenvogels
Es war einmal ein Seelenvogel, der war lange in seinem Ei. Dieses Ei war ein ganz besonderes Ei. Im Gegensatz zu all den anderen Vogeleiern bestand die Schale nicht aus Kalk, sondern war, einer Fruchtblase ähnlich, aus einer elastischen nachgiebigen Membran.
Der Seelenvogel wurde größer und größer, und die Membran, die ihn von der Außenwelt - und dem freien Flug - trennte ebenso. Es war behaglich in dieser Membran, und der Seelenvogel fühlte sich geborgen. Lange Jahre vergingen, ohne dass es ihm überhaupt auffiel, dass er alleine war und sich nicht von der Stelle bewegte.
Die Umwelt nahm er nur vage durch die milchig trübe Membran wahr, und - ganz ehrlich gesagt, nur unter uns, versteht sich - sie interessierte ihn auch nicht besonders. Und wenn er sich wirklich mal über sie Gedanken machte, kam sie ihm eher bedrohlich vor.
Eines Tages begab es sich aber, dass ein Lichtstrahl ihn aus seinem Schlaf weckte. Dieser Lichtstrahl war so schön, dass in ihm die Sehnsucht erwachte, sich dieses Licht genauer zu betrachten. Ehe er sich zu einer Entscheidung durchringen konnte, wurde es Nacht, und der Lichtstrahl war verschwunden.
Lang erschien dem Seelenvogel diese Nacht - als wenn sie nie mehr enden wollte. Er wurde traurig, ja beinahe trostlos. So verging die Zeit. An schlafen war nicht mehr zu denken. Der Kopf fiel ihm auf die Brust, er seufzte. Und wie er da so saß in seiner milchigen Membran irgendwo auf dem Planeten Erde, wurde es draußen langsam hell.
Der Seelenvogel hob den Kopf. Ein Lichtstrahl traf sein Auge. Ohne nachzudenken pickte er mit dem scharfen Schnabel die Membran auf, trat hinaus, säuberte sein Gefieder - und als es trocken war, spreizte er die Flügel und flog hoch in den Himmel, damit er dem Licht näher war.
Von oben sah er Wälder, Wiesen und Meere. Getragen vom Wind flog er mühelos weiter. Er genoss das Licht, Farben und Düfte, die Weite und die Freiheit. Traumverloren flog er dahin, ohne jeden Gedanken, geleitet von einem inneren Kompass, was so selbstverständlich ging wie fliegen und atmen.
Plötzlich spürte er etwas und sah in die Ferne. Am Horizont weit vor sich etwas zur Linken flog ein Vogel, ein Seelenvogel so wie er. Er flog so schön, so majestätisch, dass dem Seelenvogel eine silberhelle Träne aus dem Auge zur Erde hinab fiel.
Er sah nach oben: Der Himmel über ihm war voller Seelenvögel, so schön und prachtvoll anzusehen, dass dem Seelenvogel ganze Tränenbäche aus den Augen liefen. Sein Herz jubilierte. Und der Seelenvogel wusste: Er war nicht allein. Und er würde nie wieder allein sein, auch wenn er noch manche Wegesstrecke fliegen würde - aus Freude am Fliegen und aus Freude am Leben. Es gab so vieles zu entdecken: manches gemeinsam mit anderen, manches all-ein.
Günes